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Mare Nostrum

Entstehungsjahr:2025
Entstehungsort:Lampedusa, Italien
Maße:98 × 44,5 cm
Material:Handstickerei auf Leinen, Baumwollgarn
Projekte:

Was bedeutet es, wenn ein Meer, das wir einst "unser" nannten, zu einem Grab wird? In "Mare Nostrum" verwebt Tanja Boukal Schönheit und Tragödie - Stich für Stich - zu einem eindringlichen textilen Mahnmal, das an einen der verheerendsten und politisch aufschlussreichsten Schiffbrüche der jüngeren europäischen Geschichte erinnert.

Am 11. Oktober 2013 sank ein überfülltes Flüchtlingsboot mit rund 400 Menschen an Bord zwischen Malta und Lampedusa. Die meisten Passagiere stammten aus Syrien, viele waren Familien mit Kindern. Über Stunden hinweg baten sie per Satellitentelefon verzweifelt um Hilfe – doch zwischen der italienischen und der maltesischen Küstenwache wurde die Zuständigkeit hin- und hergeschoben. Der Originalfunkverkehr ist erschütternd:

„People are dying, please. They need help. [...] The boat is going down now!“
– „We know, but the boat is in Maltese waters.“
– „But Malta says it’s your area. You must come!“
– „We cannot do anything. Call Malta.“

Die Rettung kam erst vier Stunden später – für viele zu spät. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben mindestens 268 Menschen, darunter 60 Kinder.

Tanja Boukal hat diesen vollständigen Notruf in Morsezeichen auf Leinen übertragen – eine längst veraltete Kommunikationsform, die hier zum Symbol bürokratischen Versagens und kollektiven Wegschauens wird. Die dichten Reihen aus Punkten und Strichen wirken wie ein chiffrierter Teppich aus Hilferufen – eine visuelle Störung, die sich unter die dekorative Oberfläche legt.

Im Vordergrund steht der Schriftzug „Mare Nostrum“, ausgeführt in fröhlichen Blau- und Türkistönen, inspiriert von der touristischen Ästhetik Lampedusas: Souvenirfarben, Muscheln, Wellenornamente. Doch beim genaueren Hinsehen zeigt sich ein Bruch – in die Buchstaben sind zwei realistisch gestickte menschliche Figuren eingearbeitet: eine trauert, eine liegt leblos. Der Tod ist buchstäblich in den Namen eingewoben.

Der Titel Mare Nostrum verweist auf die gleichnamige italienische Seenotrettungsmission, die nach den Schiffsunglücken im Oktober 2013 ins Leben gerufen wurde. Innerhalb eines Jahres rettete sie über 130.000 Menschen aus dem Mittelmeer. Doch aus Kostengründen wurde die Operation 2014 eingestellt. Sie wurde durch kleinere, auf Grenzschutz fokussierte Einsätze ersetzt. Heute sterben weiterhin Tausende auf der zentralen Mittelmeerroute: Allein im Jahr 2023 verzeichnete die IOM mindestens 2.498 Todesopfer – diese Route ist und bleibt die tödlichste Fluchtroute der Welt. Die politischen Beteuerungen von „Nie wieder“ sind längst verhallt.

Mit Mare Nostrum schafft Tanja Boukal ein stilles, aber eindringliches Denkmal. Ihre aufwendige, selbst ausgeführte Handstickerei verbindet traditionelle textile Technik mit politischer Dokumentation. Die Stickerei – historisch als weiblich und häuslich konnotiert – wird bei ihr zum Werkzeug des Erinnerns und Anklagens. Mare Nostrum ist ein textiles Mahnmal für Europas selektives Gedächtnis – und ein Appell, genau hinzusehen, wo wir es uns angewöhnt haben wegzuschauen.

Mare Nostrum entstand im Rahmen von HOSPITIUM – The Lampedusa Project, einem einjährigen Kunstprojekt von Tanja Boukal im Rahmen von Agrigento Capitale della Cultura 2025.

Ein Video, das den ursprünglichen Notruf dokumentiert

Veröffentlicht von L'ESPRESSO: Così l'Italia ha lasciato annegare 60 bambini

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https://youtu.be/XOuRvdwHDFU?si=FDHDzWEJvpuFHqb5

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